Die letzte Chance der Kakerlakenfalle

      Papst versus Eierstecher: In der ganzen Welt der der 0,57 Euro


      Der beeindruckendste Verlierer ist Malaysia. Schickt ein völlig unerklärliches Produkt ins Rennen: ein Gummiteil, handtellergroß, auf dem sich die Konturen der Prilblume erheben, das Ganze in schmutzig dezentem Beige. Die Preisrichter tappen mit gerunzelten Mienen über ihren Einkaufskörben an der malaysischen Darbietung vorbei. Nein. Das ist doch zu fremd. Tritt dazu noch bar jeder Erklärung und Verpackung auf. Ein pures Produkt, sozusagen. Aber en masse. Vielleicht fehlt ihm ja nur eine pfiffige Idee. Stuckprilblumen ließen sich damit wohl gießen, überlege ich, zur Wohnungsverschönerung. Dann lebe ich wie ein Malaysier. Halt! Leben die mit Stuckprilblumen an den Wänden? Vielleicht legen sie sich die Gummiteile auch als Regenschutz auf den Kopf? Oder sie spielen Frisbee damit oder ... was weiß ich. Wahrscheinlich haben sie Gebräuche, von denen ich nichts ahne, ebensowenig die anderen Preisrichter. Gebräuchlichkeit - das ist ein Kriterium. Ich fälle mein Urteil: Der Gummiteller bringt’s nicht, auch nicht für 57 Cent.


      Ich ziehe weiter. Denn ich weiß, was ich tue. Ich bin schließlich nicht zum ersten Mal Preisrichter in der „ganzen Welt der 0,57 Euro". Das tägliche Festival für verzweifelte Billigstprodukte ist durch die Euro-Umstellung in Turbulenzen geraten. Zunächst änderte der ehemalige Pfennigfuchser die Parole „Alles für 99 Pfennige" in „Die ganze Welt der 0,55 Euro". Doch bereits wenige Wochen später wurde korrigiert, die Werbepsychologie von Hand überkritzelt. Die Welt der 0,56 Euro begann. Die konnte sich auch nicht lange halten. Und es brach an Zeitalter der 0,57 Euro an, in dem wir bis heute leben. Es ist eine mitleidslose Welt: Wer hier liegenbleibt, für den gibt es keinen Trost. Es ist der härteste Wettbewerb, den Preisrichter je veranstaltet haben. Selbstentsorgungsgedanken plagen die Produkte. Während sich die Verliererprodukte der Hochpreisfestivals gerne laut und frech herausreden: „Mann, ich war halt zu teuer. Mich kann sich ja keiner leisten.", erbleichen und verstummen hier die Verlierer, fallen in düstere Sinnkrisen und Mülltonnen.


      Dennoch wollen wieder mal viele teilnehmen. Hoffen auf eine letzte Chance. Traditionell gut besetzt ist die Kategorie „Haushaltswaren". Rund 400 Kleiderbügel aus Holz versuchen als wilder Haufen ihr Glück, eine Alufolienmarke probiert’s mit dem großem, bombastischen Aufmarsch, drei Einzelexemplarfolien unterschiedlicher Marken haben sich zu einer Punkgruppe zusammengefunden. Sie posieren im untersten Regal, hängen in aufgerissenen Verpackungen rum. Servietten und Pappbecher arbeiten mit der Refrainmethode, stapeln sich in jeder zweiten Reihe. Die Kategorie „Leibliche Nahrung" besticht durch Fertigsuppen- und Gewürzvielfalt. Keine dumme Ergänzung. Ihr großer Bruder, Kategorie „Geistige Nahrung", hat dagegen nur einen, dafür aber um so hochkarätigeren Vertreter ausgewählt: den Papst (in Bildern). Und in Worten zweier SZ-Journalisten. Und das für 0,57 Euro. Nein. Der Papst kostet mehr. Der Papst kostet 1 Euro. Wie aber kann das sein?


      Ach. Es ist ein Jammer. Im Zuge der allgemeinen Wirtschaftspanik werden im Moment die Wettbewerbsregeln hier in der „ganzen Welt der 0,57 Euro" auf skandalöse Weise ausgehebelt. Das Motiv ist leicht erkennbar. Der Papst, besorgt um sein Renommee, scheut den fairen Wettkampf mit Zahnstochern und Eierstechern. Lieber legt er ein überteuertes Startgeld hin. So kann er sich im Falle, daß er liegenbleibt, auf die ebenso einfache wie bittere Wahrheit zurückziehen: „Es gibt einfach zuviel Armut in der Welt." Ja, das verstehe ich. Wir Preisrichterinnen sind schließlich keine Unmenschen. Was jedoch hier - vom Papst mitgetragen - passiert, ist ein breit angelegter Angriff. Die Welt der 0,57 Euro ist vom Untergang bedroht. Parasiten sitzen in ihren Regalen: Keramik-Enterich in Latzhose mit wippendem Strohhut zu 0,77 Euro, Monster mit Pumpgun zu 0,94 Euro, Koffer zu 65 Euro. Manch einer tritt sogar mit einem Dumpingpreis an: 0,40 Euro und 0,51 Euro an. In Zeiten wirtschaftlicher Härte flüchten die Produkte aus der realen Welt der 0,57 Euro in verschiedene Traumwelten: die Welt der 0,77 Euro, die der 0,94 Euro ... um die Konkurrenz zu schmälern. Logisch. Als Preisrichterin kann ich das aber nicht unterstützen. Und schon gar nicht kann ich tolerieren, daß einstige Hochpreis- und Schnöselprodukte nach ihrem Niedergang dieses kleine, feine Festival hier stürmen.


      Hm. Allerdings: Eine Trimmaschine in der Größe einer Speisekammer für 0,57 Euro? Oder für ein bißchen mehr? Das wär’ jetzt schon ... Ich höre das Schnäppchenglöckchen in meinem Kopf klingeln, flugs will ich die Maschine in meinen Einkaufskorb wuchten, bevor die anderen Preisrichterinnen was mitkriegen. Die schauen nämlich schon. Aber was ist denn das? Etwa ein Preisschild? Potz Blitz: Unversehens bin ich in der Welt der 350 Euro gelandet. Mamma mia. Weg damit. Raus aus meinem Einkaufskorb, Preisrüpel!


      Raffinierter bringt sich die Duschhaube ins Spiel. Für die Preisrichter unvorhersehbar, schießt sie an verschiedenen Stellen des Festival-Ladens hervor: einmal zwischen Nägeln und Kakerlakenfallen, dann wieder zwischen Plastikohrgehängen und Miniteddys. Immer wieder die Duschhaube. Ich vermute, sie plant etwas. Eine Vervielfältigung ihrer selbst. Um eine Duschhaube für jede denkbare Welt anbieten zu können, für die Welt der 0,57 Euro, die der 0,84 Euro, die der ... das Konzept ist wohl klar. Der Duschhaubenmarkt ließe sich so bestens erforschen. Die innerduschhaubige Konkurrenz würde belebt. Alles würde besser. Kein schlechtes Konzept. Trotzdem brauche ich keine Duschhaube. Sie verliert.


      Mit den Siegern im Einkaufskorb stapfe ich schließlich zur Kasse. Links und rechts jammern die Produkte, die sich durch Preisdoping selbst disqualifiziert haben. Lieber nicht hinschauen. Sind sehr viele. In meinem Korb liegen die Aufrechten, die Stolzen. Produkte, die die Ideale der „ganzen Welt der 0,57 Euro am überzeugendsten verkörpern. Gewonnen haben zwei Holzkochlöffel, 20 Müllbeutel und ein Gao Ji Xi Cha Bu. Das letzte ist ein rosa Plastikschwamm mit weißem Polyester umhäkelt. Mit ihm kann man alles mögliche waschen einschließlich seiner selbst. So zeigen es die Bilder auf der Verpackung. Sehr hübsch eingetütet ist er auch. Schriftzeichen zieren die Folie, chinesische vielleicht, und zwei rote Äpfel. Warum wohl? Ist dies auch ein Schwamm zum Äpfelabreiben. Alte chinesische Sitte? „2,28 Euro, bitte!" Wie geschwind das ertippt wurde. Man merkt doch gleich: Da ist Multiplikation im Spiel. So ist sie, „die ganze Welt der 0,57 Euro". So fix, so effektiv. Ich stecke einen papiernen Zipfel von ihr als Beweis in die Tasche und schlendere beglückt in die Welt des Allesmöglichen hinaus.


      Sollte sie aber einmal völlig verschwinden, dann, so hoffe ich, mögen neue, andere und doch ähnliche Welten entstehen, vielleicht die Welt der 10 Kubikzentimeter oder die der 100 Gramm. Das wär’ zum Beispiel praktisch, wenn man, schon voll bepackt, plötzlich feststellt: He, jetzt habe ich genau noch 10 Kubikzentimeter Platz in meinem Tüten. Oder: 100 Gramm mehr könnte ich gerade noch schleppen. Die liebste Welt wäre mir persönlich jedoch die der völlig unerklärlichen Produkte. Dann würde ich leben wie ein Malaysier. Garantiert.

      Susanne Berkenheger

      F.A.Z., 29. Januar 2003

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