Susanne Berkenheger, 1999

Der mausgesteuerte Autor

oder die Entstehungsgeschichte von "Hilfe! - Ein Hypertext aus vier Kehlen"

Waren die vertrauenswürdig? Saßen im Halbdunkel grinsend beisammen, ich stand allein und beleuchtet vor ihnen. Denen sollte oder wollte ich - so war mein Konzept - die Funkmaus geben und dann ... "Also Sie klicken, ich lese", hatte ich erklärt, und daß dies deshalb eine "Hyperlesung" meines Hypertextes "Zeit für die Bombe" sei. Das war Mitte November 1997.

Schon Wochen vorher hatte ich versucht, mir den schlimmstmöglichen Leser vorzustellen und vorauszuahnen, wie er mich mit Hilfe jener Funkmaus wohl striezen könnte. Ich hatte eine Reihe von Gegenattacken vorbereitet. Würde es zum Beispiel einem Spaßmacher einfallen, mich stundenlang zwischen den immer gleichen drei Seiten kreisen zu lassen, so hatte ich für diesen Fall einigen Spott und verschiedene Beschimpfungen in den Text integriert. Je öfter eine Seite angeklickt wurde, um so heftiger wurde ich.

Den Spaßmacher gab's, und ich spottete und schimpfte, sehr zum Vergnügen des Publikums. ,Oho’, dachte ich mir, ,das gefällt ihnen also, wenn der Text sie beobachtet, sie prüft, belohnt und straft.’

Seitdem sitzen sie in Gedanken oft vor mir, die Leser. Wenn ich schreibe und verlinke, male ich mir aus, wie sie zögern, eilen, klicken, blinzeln und wie sie nebenbei auf die Uhr schauen. Manche Links setze ich für die Schurken unter den Lesern, für die flüchtigen, vagabundierenden, lege Mausfallen aus. Klappe zu, und sie sitzen in einer doch stringenten Geschichte. Von anderen Links glaube ich wiederum, daß sie direktere Naturen ansprechen. Die versuche ich aufzuhalten im Lesesprint.

Mehr und mehr ist so der von mir vorgestellte Leser zur handelnden Person geworden, eine Leerstelle, ein schwarzes Loch, das der Text zu ergründen sucht. Als ich mit "Hilfe!" begann, stellte ich mir die Kontrolle und den dadurch möglichen Dialog mit dem Leser ziemlich umfassend vor: Vier fiktive Personen beobachten ihn, buhlen um seine Aufmerksamkeit, machen Jagd auf ihn. Sollte er etwa seine Maus unsicher über den Bildschirm bewegt haben, gezögert oder im Gegenteil so schnell weitergeschweift sein, daß er unmöglich den Text gelesen haben konnte? Die vier würden darauf reagieren, verschieden, je nach Charakter. Der Leser sollte Konsequenzen spüren.

Technisch wäre vieles (fast alles) zu machen gewesen. Nur: Die Leser, die ich mir vorstellte, wurden immer mehr, immer neue Varianten fielen mir ein, wie sie sich verhalten könnten, insbesondere nachts brachen Scharen von Lesern in meine Vorstellungen, schoben sich in imaginäre Fußballstadien und verlangten, daß ich meine Geschichte doch bitte jedem einzeln in einem trauten Zwiegespräch erzählen soll.

"Hilfe!", rief ich und hatte einen Titel.