Die Schwindel piepst nie (sagt die Schwindel)
Mann! Sommer! Hitze, Witze ... Telefon klingelt. Herr Ness von der Stadtverwaltung schnauft, vibriert, nimmt ab. „N’ss". Nessens Luftstrom säuselt sich in den Haarturm der Kollegin Schwindel hinein. Sie schaut auf, am Fenster vorbei - zu schnell, als dass wir erkennen können, wo wir uns sind (tut uns leid) - fixiert den schwitzenden Ness am Hörer und fragt: Schon wieder einer? Aus Ness brummt etwas. Schon wieder einer reingefallen?, stößt die Schwindel kurzatmig nach. Und aus rosa leuchtenden Backen: Wir müssen hin! Wir müssen absperren! Ness brummt zweimal. Die Schwindel seufzt. Großräumig absperren, denkt sie. Die ganze Witzzone absperren.
Später hat sie den Ness soweit. Sie müssen hin. Ness sieht das jetzt auch ein. Er muss absperren. Er muss warnen. Sie marschieren durch die Stadt, die vor wenigen Tagen der Urlaubseinbruch gewaltig leer gefegt hat. Ganze Ge-bäude seien wieder mal fortgerissen vom Sturm Richtung Süden, behauptet die Schwindel. Da zum Beispiel, da stand mal was. Was Öffentliches. Vor wenigen Tagen noch. Jetzt ist es weg. Einfach weg. Die Schwindel rempelt empört den Ness an. Ness sieht weg. Die Schwin-del hin. Oder hinunter: Denn vor ihr - wo mal das Öffentliche gestanden hatte - klafft jetzt ein ziemlich großes Loch. Herr Ness! Hier ist wieder eins. So ein Loch. Die Schwindel schnüffelt aufgeregt in die Tiefe. Ob es hier war? Haha, hüpft es aus Nessens Bauch heraus. Er
wird gleich scharf belehrt. Kein Witz, Ness, ein Loch!
Vor Schwindels Sandalenspitze lösen sich ein paar Steinchen und fallen. Das Loch ist tief. Auch dunkel. Es schnauft. Tief atmet die Schwindel ein, was das Loch aushaucht: Ein Duft von Moder, Sumpf, Schimmel, von Ungeheuern ... ja, von Fantasie. Das belebt die Schwin-del, schraubt sie in einen Strudel ohne Grund. Sie schau-dert. Wohlig. Schwankt. Torkelt überm Abgrund, lässt ein aufgeregtes Lachen in die Tiefe fallen und ... fast wäre sie dem eigenen Lachen nach hinuntergestürzt, hätte nicht Ness sich unvermutet fix nach ihr geworfen, ihre Beine umklammert und die Schwindel in letzter Sekunde zurückgerissen.
Absperren, japst die Schwindel, als sie dann nebenein-ander liegen. Vor ihnen das Loch. Großräumig absperren. Ness schnauft angestrengt. Oder ... die Schwindel wälzt sich auf die Seite. Seit Jahren hat sie einen geheimen Plan in der Schublade unter der Puderdose. Jetzt, kurz nach-dem der sommerliche Urlaubssturm gewütet hat, jetzt, wo alle weg sind, die Stadt entwurzelt und löchrig zurück-bleibt, jetzt, noch bevor aus den Löchern wieder die wilden Tiere mit Halsbändern, die Marienerscheinungen, einige irrlichternde Propheten rausklettern würden, jetzt wäre die richtige Gelegenheit. Zeit für großen Schwindel-Plan: Einebnen. Alles einebnen. Die ganze Stadt ab-schmirgeln. Einen Parcours von gleichem Niveau anlegen. Für alle. Übersicht schaffen. Weg mit den Löchern. Weg mit den Abgründen. Die Schwindel seufzt. Ness auch. Er ahnt den Plan. Er spürt ihn. Er wittert ihn. Wenn die
Schwindel seufzt. Er ist gegen den Plan. Die Schwindel ahnt das. Sie hört es. Wenn es aus Ness herausbrummt. Wie jetzt gerade. Ness! Wir müssen was machen! Was noch keiner gemacht hat! ruft die Schwindel und robbt wieder an den Abgrund heran. ... noch keiner gemacht hat, hallt es von unten zurück. Und von noch viel tiefer unten dringt ein knittriges Jammern herauf.
Hier ist es! stößt die Schwindel aus. Also er! Ich meine, der Reingefallene! Hier ist er! Sie wird rot um die Nase. Ihr stolpern die Gedanken davon. Retten, Ness. Wir müssen retten. Die Schwindel hält die Luft an. Nichts. Nur Stille. Aus Ness brummt nichts heraus. Kein Laut. Ness? Jetzt keckert was. Ness! Wir müssen hinunter.
Ness zuerst. Warum? Die Schwindel will es so. Er ist schon weg, abgetaucht. Sie knotet sich das Seil um die klopfende Brust. Ness hängt weiter unten in der Wand des öffentlichen Lochs. So nennt es die Schwindel. Und: Ich komme, ruft sie ihm zu. Sie tritt daneben, dort, wo es locker ist, zu locker. Dort, wo sich Brocken lösen, die stürzen, an Ness vorbei, die Schwindel den Brocken gleich hinterher. Ness krallt sich an der Wand fest, stemmt sich gegen den bevorstehenden Ruck, zuckt, als das Seil sich um seinen stabilen Leib spannt, ein-, zwei-, dreimal, keucht, schwitzt, zuletzt pendelt das Seil ge-mächlich von ihm. Unten dran die Kollegin. Schwindel? fragt er und dann: Melden Sie sich. Er hört ein Piepsen, atmet auf. Schwindel, Schwindel jetzt wären beinahe sie reingefallen. Es piepst lauter, zorniger, wie ihm scheint.
Ness kann darauf jetzt keine Rücksicht nehmen. Der Abstieg steht bevor und er ist lang. Je gewaltiger das Bauwerk, umso größer ist das Loch, aus dem es gebaut ist. Haben sie schon mal über diesen einfachen Sach-verhalt nachgedacht, Kollegin Schwindel? ruft er hinab und durchhalten! Es fiept. Es zieht am Seil. Es kitzelt seinen Bauch. Ness lacht. Er hätte sowieso gelacht. Er fühlt sich wohl. Sehr wohl. Endlich. Und die Schwindel? Sie kiekst. Jedes mächtige Gebilde steht auf einem noch mächtigeren Abgrund. Schwindel? Hören Sie? Es fiept. Ness seilt sich schneller abwärts. Er holt Luft. Bläst die Backen auf. Predigt der Wand. Ein Echo saust zwischen den dunklen Ecken hin und her: Nichts zirkuliert ohne ..., nichts atmet ohne ..., nichts glänzt ohne gurgelnden, rutschenden, schmatzenden Untergrund. Das ist das Fundament der Pracht, der Macht. Schwindel? Sind sie noch da? Das Seil knarrt. Ein hoher Ton sirrt an ihm entlang. Mutmaßlich doch von der Schwindel. Oder? Ness hält einen Moment inne. Der Grund des Loches naht bereit. Ness weiß es. Er spürt es. Sein Bauch sagt es ihm. Der Zug am Seil scheint abzunehmen. Energisch wirft er einen letzten großen Satz in die Dunkelheit. Das Funda-ment der Wahrheit ist die Erfindung, trompetet er, springt, fliegt, plumpst und findet sich wieder am Grund. Neben ihm sitzt bereits die Schwindel. Sie sind ja ein Philosoph, Ness!
Ness brummt. Die Schwindel schreit, weil das Seil neben ihr zu Boden knallt. Ness, jetzt wir sind verloren! Sie wird schrill, er still. Wir kommen nie wieder hoch. Sie
weint. Er scharrt. Etwas knarrt. Sie hören das knittrige Jammern, dasselbe wir zuvor, doch diesmal recht laut, sehr nah. Hier, hier ist er, flüstert die Schwindel verzagt ... der, der reingefallen ist. Sie streckt den Arm aus, wühlt unterm Seil, es knistert, sie findet in ihrer Hand einen Zettel. Ness! Mach mal Licht! Ein Feuerzeug flackert folgsam. Text flammt auf. Sie lesen. Nicht lange. Die Schwindel stößt zuerst die Luft aus - und zwar entrüstet ins Nessens Ohr: Das ist erbärmlich, unsäglich, ein grottenschlechter Witz! Da steht, ich würde piepsen. Ich piepse aber nicht. Nie! Ness grunzt. Die Schwindel stampft auf. Laut. Sie stößt sich. Ness hört es knallen, schlagen, fluchen, dann einen Schwindel-Befehl: Feuer bitte! Ness folgt und schaut: Die Schwindel hält ein winziges Schild ins Licht: „Die Witzzone ist mit sofortiger Wirkung großräumig abgesperrt!" Ness, verwirrt, ruft aus: Aber in jedem tiefen Loch sitzt doch ein Witz. Wenigstens einer, sagt die Schwindel und streicht Ness übers nasse Haar.
Susanne Berkenheger
F.A.S., 4. August 2002
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